Begegnung mit Ernesto Cardenal

Unser Land braucht viele unartige Christen

Cardenal 72

Vor über einem Vierteljahrhundert bin ich Ernesto Cardenal beim Kirchentag in Hamburg erstmals begegnet. Damals war er Kultusminister von Nicaragua und katholischer Geistlicher. Jetzt ist er 83, längst vom Vatikan wegen seiner Unbotmäßigkeit als Priester suspendiert. Ich erlebe ihn bei einer Lesung in einem Gymnasium in der bayerisch-katholischen Bischofsstadt Eichstätt. Sein Gesicht strahlt Güte und Weltweisheit aus, in den Gedichten, aus denen er zitiert, spiegelt sich sein Leben zwischen Liebe, Glaube und Revolution, wird sein Kampf für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung deutlich.

In der Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern lässt der “linke Befreiungstheologe”, wie er oft abgestempelt wird, nichts von seiner streitbaren und umbequemen Deutlichkeit früherer Jahre vermissen. Nein, er ist kein Marxist, betont der alte Mann mit dem besonderen Charisma, er lebt und predigt nur die Botschaft des Teilens, wie sie in der Bibel steht.

“Es gibt überall auf der Welt zwei Kirchen”, sagt Cardenal, “eine Kirche der Reichen und eine Kirche für die Armen, die Ausgebeuteten und die Unterdrückten. Sie wissen, welche die Richtige ist.” Und gleich setzt er noch eins drauf: “Reich ist, wer mehr hat, als er zum Leben braucht und arm ist, wer weniger hat, als er braucht. Wer reich ist, ist entweder ein Dieb oder der Sohn eines Diebes.”

Dafür erhält der kleine Mann mit Jeans und Baskenmütze, unter dem die schlohweißen Haare hervorquellen, viel Beifall von den Schülerinnen und Schülern.

Ernesto Cardenal ist einer jener unartigen Christen, über die ich – der Publizist – am vergangenen Sonntag bei einem Gottesdienst in anderer Form gesprochen habe. Es war still wie selten in der evangelischen Markgrafenkirche in Treuchtlingen, als ich davon redete, was die frommen und artigen Christen etwa zur Zeit des Dritten Reiches angerichtet haben und wie sich vorgeblich christliche Politiker heute gegen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung versündigen.

Auf der Fahrt zur Veranstaltung in Eichstätt höre ich im Autoradio, dass gegen einen der großen Wirtschaftsführer in Deutschland ermittelt wird wegen Steuerziehung in Millionenhöhe. Auf der anderen Seite erhitzen sich Politiker seit Monaten in einer Mindestlohndebatte. Der politische Fetisch Wirtschaftswachstum trägt dazu bei, dass wir diesen Planeten vorsätzlich ruinieren. Die paar Frommen ziehen sich in das Schneckenhaus ihrer Weltfremdheit zurück oder predigen einen gefährlichen Fundamentalismus. In den Kirchen wird die Botschaft vom zweischneidigen Schwert mit der Tradition von vorgestern bis zur Unkenntlichkeit entschärft.

Mich packt oft ein heiliger Zorn. Unser Land und unsere Kirchen bräuchten viele unartige Christen wie Ernesto Cardenal. Und wir bräuchten christliche und soziale Politiker wie Ernesto Cardenal einer war. Die Politik einer staatstragenden Partei in Bayern, die “christlich” und “sozial” im Namen führt, jedenfalls hat mit den urchristlichen Werten nicht das Geringste zu tun. wek

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